by Younetlib (GbR)

+49 7143 873715
info@younetlib.de

02. Die Entsendung

Einen Augenblick später komme ich in der einzigen Engelhalle des Himmels an. Für Menschen ist es bestimmt erstaunlich, dass wir Engel nur eine Halle haben. Aber diese Halle ist eine Allzweckhalle, die diesen Namen auch verdient. Sie wird je nach Bedarf in Größe und Ausstattung verändert. Die fünfzig Engel im Innendienst, die für Gestaltungsarbeiten zuständig sind, können unsere Halle mit wenigen gekonnten Handgriffen von der großen Flughalle in eine Sporthalle, wie sie auf der Erde üblich ist, umbauen. In dieser Halle habe ich auch Motorradfahren geübt. Zu diesem Zweck war sie zur Stadt umgebaut. Und die anderen haben in ihr Autofahren gelernt.

Als ich die Halle betrete, ist sie als mittelgroßer Festsaal gestaltet. Es gibt eine Empore und eine Bühne. Im Zuschauerraum sind schon viele Engel versammelt. In der ersten Reihe sitzen elf Engel in Menschengestalt, darunter auch Dorothea Glück. Auch ich nehme in der ersten Reihe Platz. Als ich meinen Platz eingenommen habe, sehe ich mich sorgfältig um. Ich ahne, dass nur wir zwölf gleich verabschiedet werden. Meine Unruhe wächst, weil ich mich frage, wo die andere Hälfte von uns geblieben ist. Ich stelle fest, dass wir alle zwölf eine weibliche Menschengestalt bekommen haben.

"Weiß jemand, was mit den anderen aus unserem Seminar geworden ist?" Fragt Dorothea.

"Ja, ich weiß es“, erklärt ein Engel, der ähnlich exklusiv wie Dorothea gekleidet ist. Sie ist auch blond aber kleiner als Dorothea.

"Die Herren der Schöpfung sind schon verabschiedet worden. Sie wurden alle nacheinander nach Ostfriesland oder Bayern entsendet."

Nachdem sie das gesagt hat, merkt die niedliche Kleine, dass ich auch da bin.

"Wie heißt du jetzt, Derila?"

"Stella Engel! - Und du?"

"Ich heiße Raphaela Gottlob! - Findest du nicht, dass für dich Stella, der Stern, ein sehr hochgegriffener Name ist?"

Auf diese rhetorische Frage fällt mir keine passende Erwiderung ein. Dazu könnte ich höchstens sagen: „Wer weiß, was die Erzengel sich bei meinem Namen gedacht haben.“

Kaum haben sie ihre Menschengestalt, scheinen sie ihre Engelhaltung verloren zu haben und werden schwatzhafter denn je.

Die Aufgeregtheit der anderen erfasst mich ein Stück weit. Doch mir gelingt es zumindest äußerlich vollkommen ruhig zu bleiben. Ich höre, dass sie reden. Aber ich höre nicht dabei zu, was sie sagen. Plötzlich knufft mich Dorothea in die Seite:

"Sag mal, Derila, äh, Stella, bist du nicht wenigstens auch ein bisschen aufgeregt, oder hast du was von diesem Menschenzeug genommen?"

"Ja, ich bin auch aufgeregt. Und nein, ich habe keine Beruhigungsmittel genommen!"

Dann geht die Tür neben der Bühne auf. Ein Trompetensignal kündigt das Kommen der Musiker und Sänger an. Der Engel mit der Trompete ist der Dirigent. Er schwebt vor den Harfenisten und Sängern in den Saal. Die Sänger und Harfenspieler nehmen auf der Empore Aufstellung. Mir fällt auf, dass es auch im Musikkorps einen Führungswechsel gegeben hat. Der Dirigent ist ein freundlicher, großer Engel, der leicht und beschwingt seine Musiker und Sänger anführt. Dieser Engel ist so freundlich und so beschwingt, dass selbst ich fast glauben kann, dass Musizieren eine schöne, dankbare und einfache Engelaufgabe ist. Und diesem angenehmen Anblick zum Trotz steigen in mir unangenehme Erinnerungen auf.

"Jeder Engel muss einmal das Singen ausprobieren“, behauptete mein damaliger Chef.

Also ging ich zu einem öffentlichen Vorsingen, bei dem ungefähr 25 Engel Testgesänge anstimmen sollten. Ich war die Erste, auf die der Dirigent zeigte. Also ging ich auf die Bühne und sang. Zunächst kam es mir so vor, als sei der Dirigent viel freundlicher als mein Vorgesetzter. Er ließ mich lange vorsingen und schien geduldig zuzuhören. Nach meinem Vortrag hüllte er den Saal auf einen Schlag in vollkommene Dunkelheit. Dann richtete er plötzlich ein gleißendes, gelbes Licht auf mich. Dieses Licht strahlte reine Verachtung aus.

Bei dieser Beleuchtung konnten mich alle Anwesenden überdeutlich sehen.

"Das ist das absolut abschreckendste Beispiel für Engelgesang, dass ich je ertragen musste. Textsicherheit und die Beherrschung der Melodie macht noch keinen Engelgesang. Das ist nur ein abscheuliches, melodiöses Grollen. Da wird auch nicht mehr draus! Aber, wenn man ein Donnerrollen erzeugen will, muss man keinen Engelchor engagieren. Engelgesang hat gefälligst immer und überall lieblich zu klingen. - Also sofort abtreten!"

Während ich geduckt davon schwebte, schickte mir der Dirigent eine ganze Zeit lang höhnisches Licht in einem anderen Gelbton hinterher. Niemand, der dabei war, wird diese effektvolle Demütigung jemals vergessen.

Nachdem die Sänger und Harfenisten auf der Empore Aufstellung genommen haben, beginnen sie sofort zu singen und zu spielen. Und ich gebe gern zu, dass mir diese Musik sehr gut gefällt, obwohl ich während des Vorbereitungsseminars meine Liebe zur menschlichen Rockmusik entdeckt habe. Ich freue mich von Herzen an den himmlischen Klängen. Und sie geben mir meine innere Gelassenheit wieder. Noch während das Musikkorps spielt, öffnet sich die Saaltür neben der aufgestellten Bühne abermals, und die vier Erzengel kommen herein. Sie schweben auf die Bühne und stimmen in den Gesang des Chores ein.

Zurück